Günzel, Stephan. 2008. „Böse Bilder? Sehenhandeln im Computerspiel“ In Das Böse heute. Formen und Funktionen, herausgegeben von Werner Faulstich, 295-305. München: Wilhelm Fink.
Keywords: Killerspieldebatte, Bildwissenschaft, Sehenhandeln, Moral, Interaktivität
1. Worum geht es in dem Text?
Im Rahmen eines Sammelbandes zum Bösen präsentiert Stephan Günzel einen erfrischend unaufgeregten Zugang zur sogenannten ‚Killerspieldebatte‘, die im Jahr 2008 in Politik und Presse noch sehr prominent war.
Er nutzt dabei die bildwissenschaftliche Unterscheidung von Bildträger, Bildsujet und Bildobjekt (Husserl), um die spezifische Medialität des Computerspiels (aka seine Interaktivität) als Quelle eines verbreiteten Missverständnisses in der ‚Killerspieldebatte‘ aufzuzeigen: Was Computerspieler*innen sehen, ist nicht das, was ein(e) hinzukommende(r) Beobachter*in sieht, weil Computerspieler*innen nicht nur sehen, sondern ‚sehenhandeln‘.
Mögliche Gewaltdarstellungen (etwa im First-Person-Shooter) sind somit zwar nicht egal, da die Interaktion aber mit dem Bildobjekt (und nicht mit dem Bildsujet) stattfindet, kann es laut Günzel kein Böses im eigentlichen Sinne im Computerspiel geben.
2. Warum sollte ich diesen Text lesen? Wofür ist er hilfreich?
Der Text reißt auf wenigen Seiten (elf mit Bildern!) viele Themen an, die für das Verständnis von Computerspielen und Game Studies wichtig sind.
Zu diesen Themen gehören u. a. der ‚Gründungsstreit‘ der Game Studies (Ludolog*innen versus Narratolog*innen), einige vielzitierte ‚Klassiker‘ der Game Studies (Huizinga, Caillois, Schiller) und ihre Definitionen von ‚Spiel‘.
Am interessantesten ist der Aufsatz aber in Bezug auf die spezifische Medialität des Computerspiels, seine Interaktivität und Immersivität: Wer ein Computerspiel nicht selbst spielt, sondern beispielsweise via Let’s-Play-Video oder als Backseat-Gamer*in rezipiert, nimmt einen Medienwechsel hin und kann somit das rezipierte Computerspiel nicht in seiner Gesamtheit beurteilen. Um sich das zu vergegenwärtigen, ist Günzels Aufsatz auch über 15 Jahre nach seiner Veröffentlichung noch relevant.
Anknüpfungspunkte ergeben sich außerdem für die Analyse von Walkingsimulatoren, die häufig auf Shooter-Engines aufbauen (z. B. Dear Esther).
3. Worauf sollte ich vor/bei der Lektüre achten?
Der Aufsatz ist sicherlich nicht perfekt – das Thema des Bösen beispielsweise fühlt sich teilweise wie ein Fremdkörper an und scheint ein Zugeständnis an das Thema des Sammelbandes zu sein, während der Autor sich mehr für die Killerspieldebatte und die Medialität des Computerspiels interessiert.
Außerdem bricht der Text nach einem Abschnitt mit Beispielen (überwiegend First-Person-Shooter) sehr unvermittelt ab und so können wichtige Themen aufgrund der Kürze des Aufsatzes nur kursorisch behandelt werden.
Die Vorzüge des Textes machen diese Schwächen jedoch mehr als wett.
4. Bezüge zu anderen Texten
Günzel referiert in aller Kürze einige sehr wichtige Texte der prädigitalen Spieleforschung, welche die Game Studies bis heute prägen: insbesondere Homo ludens von Johan Huizinga, Die Spiele und die Menschen von Roger Caillois und Friedrich Schillers Ästhetische Erziehung des Menschen, in der das berühmte Zitat, der Mensch sei nur da ganz Mensch, wo er spiele, enthalten ist, das in der Frühzeit der Game Studies häufig zur Legitimation ihrer Forschung herangezogen wurde.
Dieser Beitrag wurde verfasst von Franziska Ascher.